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Beitrag vom 09.03.2018
Einsteins Nichten - EINE GESCHICHTE VON VERLUST UND ÃœBERLEBEN. Ein Dokumentarfilm von Friedemann Fromm. Ab 27. Februar 2018 auf DVD als Video-on-Demand und als digitaler Download
Lisa Goldberg
Wie kann das Weiterleben nach dem Überleben gelingen? Die Zwillinge Lorenza und Paola Mazzetti kehren zurück an den Ort, an dem vor über 70 Jahren ihre Adoptiveltern und wichtigsten Bezugspersonen, die Familie Einstein, von Wehrmachtsoldaten umgebracht wurden. Ein wichtiges Portrait einer Konfrontation mit der Vergangenheit voller Schmerz, Stärke und Zuversicht.
Die Familiengeschichte
Der Dokumentarfilm "Einsteins Nichten" erzählt die Geschichte von Albert Einsteins Großnichten, den Zwillingen Lorenza (Lori) und Paola Mazzetti. Am 26. Juli 1927 in Rom geboren, verloren sie ihre Mutter Olga bei der Geburt. Der Vater Corrado Mazzetti hatte nicht die Kraft seine Töchter alleine großzuziehen und schickte sie zu seiner Schwester Caesarina (Nina), die mit Robert Einstein verheiratet war.
Anders als sein Cousin Albert Einstein, der bereits 1933, bei der Machtergreifung Hitlers in die USA emigriert war, beschloss Robert Einstein mit seiner Frau und den Töchtern Cici und Luce in Italien zu bleiben. 1934 adoptierte das Ehepaar Einstein Lori und Paola.
Behütet und in guten finanziellen Verhältnissen wachsen sie auf dem Landgut bei der Familie Einstein in der Toskana auf. Dort verbringen sie fröhliche und unbeschwerte Jugendjahre. Beispielsweise spielen sie Klavier mit Erika Mann oder verbringen Zeit mit Maya Einstein, der Schwester von Albert. Rückblickend erinnern sich die heute 90-jährigen Damen vor der Kamera an diese heile Welt:"Was mich heute am meisten berührt, ist weder Angst noch Zorn, sondern die wunderschöne Zeit die wir in diesem Haus erlebt haben (…). An einem Tag ist das alles verschwunden, aber dieser eine Tag kann den Rest nicht überdecken. Eine Welt voller Schönheit und Freude. Das Gute siegt!" (Paola)
Halten wir uns aneinander fest!
Das Titelbild der DVD zeigt den Zypressengesäumten Eingang zur Villa il Fortado in der Nähe von Rignano sull´Arno. Diesen Ort in der Toscana haben die beiden Frauen fast 70 Jahre gemieden. "Ich habe Angst", sagt die eine, woraufhin die andere ihre Hand ergreift. Seite an Seite schreiten sie im Film dem Haus entgegen, in dem sie Zeuginnen eines grausamen Verbrechens wurden. Ihre unmittelbaren Reaktionen überraschen. In dem Moment, in dem sie die Villa erblicken, sehen sie vor allem eins: "wie hübsch, wie schön sie war!". Diese positive Reaktion, das Genießen und Fokussieren auf die Schönheit der Dinge ist symptomatisch für die beiden Frauen, die bis heute die Traumata der Vergangenheit durch Kunst verarbeiten. Lorenza ist in Italien eine anerkannte Regisseurin und Autorin, Paola malt - beide haben sich über die Schicksalsschläge hinweg eine liebevolle Kindlichkeit und Phantasie beibehalten. Auf die Frage, warum sie sich der Kunst zuwandten, sagt Lori vor der Kamera: "Zum einen möchte ich meine Geschichte erzählen, die Geschichte meiner Kindheit (…) auf eine fröhliche Art und Weise, an all das Schöne erinnern, das man mir schenkte, das so abrupt endete."
"Es ist ein Privileg zu überleben. Ein Überlebender muss das Leben wählen!"
"Wenn all diese Dinge mich nicht umgebracht haben, bedeute das, dass ich leben soll." Starke Worte von den Frauen, die zum Zeitpunkt der Aufnahmen über 90 Jahre alt sind. Die Art und Weise, ihre Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen, ist so schön, dass die Rezensentin sich dabei ertappt, jedes einzelne Wort mitzuschreiben. So schön, so ehrlich und direkt ist das von ihnen Gesagte. Lori resümiert "Mein Leben ist geprägt von einer Reihe von Verlusten, aber auch vom Überleben".
Philosophisch und mit viel Poesie spricht Lori über den Umgang mit dem Leben, dem Überleben, dem Vergeben, aber gegen das Vergessen sowie über das Älterwerden und Überwinden der Traumata.
Die beiden Frauen haben dem Film zugestimmt, um zu erinnern "Ich wünschte, jemand würde die Erinnerung bewahren, an Cici und Luce und unsere Tante und Onkel". (Lori)
Der 3. August 1944
Der Krieg begann für die Familie Einstein in Italien erst am 8. September 1943 nach dem Sturz Mussolinis. Die deutsche Wehrmacht besetzte Italien und deutsche Soldaten beschlagnahmten die Villa "Il Focardo" – den Ort, an dem die glückliche und behütete Kindheit der Zwillinge im August 1944 ein jähes Ende fand. In der Zwischenzeit lebte die Familie mit deutschen Wehrmachtssoldaten unter einem Dach, es herrschte ein respektvolles, wenn nicht sogar gutes Verhältnis zwischen den Besatzern und der Familie Einstein. In der Retrospektive sagen die Zwillinge, dass es für sie damals sogar eine aufregende, spannende Zeit war. Gelegentlich soll Robert sogar mit dem Offizier Schach gespielt und musiziert haben. "Die große Illusion" endete abrupt nachdem die Alliierten schon bis wenige Kilometer vor der Villa vorgestoßen waren. Die Stimmung änderte sich. Die Familie hörte über Radio London erstmals von den an den Jüdinnen und Juden verübten Verbrechen.
"Unser Onkel erzählte uns nicht, dass er Jude war. Dass das gefährlich war."
Im Sommer 1944 war das Ende des Krieges bereits abzusehen, doch eine SS-Einheit kehrte für einen Rachefeldzug an der prominenten Familie Einstein noch einmal zur Villa "Il Focardo" zurück.
Die Familie Nina Mazzettis war seit Generationen christlich. So sah Robert Einstein für sie, seine zwei leiblichen Töchter und die 14-jährigen Zwillinge keine akute Gefahr einer antisemitischen Verfolgung und floh beim Eintreffen der SS-Truppe alleine in den umliegenden Wald. Doch Robert Einstein lag mit seiner Annahme falsch: Nina, Cici und Luce wurden der Spionage beschuldigt. Nachdem diese ihren Vater und Ehemann nicht im Wald fanden, erschossen die Wehrmachtssoldaten Nina und die beiden 18 und 27 Jahre alten Töchter Robert Einsteins im Haus der Familie. Blutüberströmt lagen sie am Boden – die Mutter noch schützend ihre Kinder in den Armen haltend.
Ein Jahr später nahm sich Robert Einstein, an seinem Hochzeitstag, das Leben.
In diesem Moment haben die jungen Mädchen ein zweites Mal ihre Familie verloren. Und es soll nicht ihr letzter Verlust gewesen sein…
"Welchen Sinn hat es für mich wieder hier zu sein?"
Hinter den Pinien und Zypressen liegt der Friedhof des Dorfes, auf dem die Familie Einstein begraben liegt. Der Film berührt an dieser Stelle ungemein. Beispielsweise, als sich Paola stumm auf die Grabplatte von Robert Einstein legt.
"Mich berührt diese Schönheit. … Das Glück das mir dieser Ort beschert hat.
Aber ich spüre, dass es kein Zufall ist…Etwas das für mich heute wichtig ist.
Ich bin hier um mich zu verabschieden… damit es nicht im Verborgenen bleibt, als ob es etwas Normales sei."
Diese lebensbejahende Haltung der alten Damen ist bewundernswert. Trotz regelmäßiger Schicksalsschläge gab es jedoch stets eine Konstante: die Zwillingsschwester.
"Ihr seid Singles, wir sind Zwillinge"
Der Humor ist ihnen trotz ihrer tragischen Lebensgeschichte, die schon mit dem Tod der Mutter bei der Geburt begann, nie abhandengekommen. Die Kindlichkeit insbesondere von Lori legt sich wie ein leichtes Tuch über die Handlung des Films. Begleitet wird die Stimmung der Dokumentation durch zurückhaltende und gleichzeitig kraftvolle Melodien des in Hamburg lebenden Filmkomponisten Edward Harris.
Aufarbeitung gegen das Vergessen und Verdrängen
Zentraler Bewegrund für den Dreh des Films war für den Regisseur Friedemann Fromm die "gesellschaftliche Verantwortung für die individuellen Schrecken kollektiver Verbrechen." Die Verflechtung von gesellschaftlichem Vergessen und Verdrängen mit einer Aufarbeitung hat er mit realen Bildern umgesetzt. Aufnahmen an verschiedenen Orten der Jetztzeit werden durch dokumentarische Originalaufnahmen und nachgestellten Szenen mit SchauspielerInnen ergänzt. So wird vor allem ein authentischer Eindruck von den Tagen um die grausamen Morde an Nina, Cici und Luce in inszenierten Spielfilmszenen dargestellt. In diesen wirken die Personen durch Überblendungen und Montagen wie gezeichnet und surreal.
Ein Verbrechen, das ungesühnt bleibt
Ein wesentlicher Aspekt wird in der Dokumentation jedoch nicht angesprochen.
Trotz zahlreicher AugenzeugInnenberichte, die Dienstabzeichen und Uniformen der Mörder benennen konnten, war es weder Robert Einstein noch später Albert Einstein gelungen, die Täter des Verbrechens an ihrer Familie zur Rechenschaft zu ziehen. In Folge der Beharrlichkeit und eigenständiger Recherche Lorenza Mazzettis wurde das Verfahren jedoch vor 17 Jahren neu aufgerollt. Lorenza war überzeugt, einen der verantwortlichen Offiziere des Massakers in die Pfalz zurückverfolgen zu können.
Da die Verantwortlichen der Hinrichtung der jungen Frauen Luce und Cici und ihrer Mutter Caesarina nie geklärt wurde, griff das Fernsehformat "Aktenzeichen XY… ungelöst" (ZDF am 23. 02.2011) den Mord nochmals auf, und die Staatsanwaltschaft im pfälzischen Landau und das Landeskriminalamt Baden-Württemberg ermittelte seit 2011 erneut. Doch ohne Erfolg – die Ermittlungen wurden 2014 eingestellt. Das Massaker am 3. August 1944 nahe der Kleinstadt Rignano sull´Arno bei Florenz wurde nie aufgeklärt und die Verantwortlichen nie für ihre Taten verurteilt – wie so viele.
Der Name Einstein…
…ist das Schicksal dieser beiden Frauen, auch wenn er nicht ihr eigener ist. Streng genommen sind Lorenza und Paola Mazzetti die adoptierten Großnichten des in Ulm geborenen Nobelpreisträgers Albert Einstein. Der Filmtitel erweckt den Eindruck einer unmittelbaren Verbindung zu dem weltbekannten Physiker, was möglicherweise als etwas irreführend empfunden werden könnte. Dennoch ist davon auszugehen, dass ein Titel ohne den prominenten Familiennamen weniger ZuschauerInnen auf diesen Film aufmerksam gemacht hätte – und so diese faszinierenden Persönlichkeiten und ihre Geschichte vermutlich umso mehr potentiellen ZuschauerInnen entgangen wären.
AVIVA-Tipp: Mit "Einsteins Nichten" hat Friedemann Fromm ein in vielerlei Hinsicht wertvolles Portrait eines beeindruckenden Zwillingspaares geschaffen. Sehenswert und inspirierend macht diesen Film vor allem die Kraft und der Mut der Mazzetti-Schwestern, über das Erlebte, das Überleben und vor allem ihr Weiterleben zu sprechen.
Zum Filmemacher: Friedemann Fromm wurde 1963 in Stuttgart geboren. Der u.a. mit dem Grimme-Preis (für "Weissensee" und "Die Wölfe") ausgezeichnete Autor, Regisseur, Drehbuchautor leitet heute den Bereich Regie an der Hamburg Media School.
Weitere Infos zum Regisseur unter: www.barbarella.de und www.hamburgmediaschool.com
EINSTEINS NICHTEN – EINE GESCHICHTE VON VERLUST UND ÜBERLEBEN
Herstellungsland/-jahr Deutschland / 2016
Buch & Regie: Friedemann Fromm
Mit: Lorenza und Paola Mazzetti
Format: 16:9 (1,85:1)

Sprache: Italienisch, Englisch. Untertitel: Englisch, Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte
Anzahl Disks: 1
Label: NFP-marketing& distribution
VÖ DVD, Video-on-Demand und als digitaler Download: 27. Februar 2018
Gesamtspieldauer: 91 Minuten
Mehr zum Film "EINSTEINS NICHTEN – EINE GESCHICHTE VON VERLUST UND ÜBERLEBEN" auf der Filmwebsite unter: einsteinsnichten-derfilm.de
Der Trailer auf YouTube
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